【 Past and Future Archives: Kleinbasler Kunsträume von Amerbach bis DOCK 】
Do. 13. Februar
VERDAUUNGSTEXTE
von Hannes Eckstein für das Q.U.I.C.H.E.-Kollektiv

Der unabhängige Kunstraum DOCK in Basel feiert seinen 15. Geburtstag und hat darum das Schreibkollektiv Q.U.I.C.H.E. ersucht, über das Konzept von Archiven nach- zudenken. Im letzten Artikel der anlässlich dieser Quinceañera entstandenen Reihe wurde die Frage aufgeworfen, wie denn die Kulturtechnik des Bewahrens und Ordnens von Wissen, von kreativer Produktion und geistigem Zeitgeschehen im 21. Jahrhundert aussehen kann. Besonderes Gewicht wurde dabei auf die Tatsache gelegt, dass physische Archive besonders aufgrund ihrer Potenzialität im Verbund mit immaterieller Wissensvermittlung und –aktivierung wie Musik, Lesungen oder Gesprächsplena trotz der galoppierenden Digitalisierung wohl nie ganz obsolet werden sollten. Im Folgenden soll nun nicht nur ein spekulativer Blick in die Zukunft, sondern auch ein nach möglichen Inspirationsquellen suchender in die Vergangenheit geworfen werden. Das DOCK reiht sich nämlich mit dem Unterfangen, ein Archiv und einen Begegnungsort für lokale Kunstschaffende und –interessierte zu betreiben, in eine langstehende Basler Tradition ein, deren Anfänge bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Sie wird von keinem anderen Korpus besser exemplifiziert als vom sogenannten Amerbach-Kabinett, welches nicht nur zur wohl weltweit ersten öffentlich zugänglichen systematischen Kunst- und Schriftensammlung in Eigentum eines Gemeinwesens wurde, sondern welches noch heute das essentielle Herzstück der historischen Bestände des Kunstmuseums und der Universitätsbibliothek darstellt. Es ist genau diese persistierende Relevanz des Konvoluts, die es uns erlaubt, Aspekte seiner aussergewöhnlichen Geschichte auch für gegenwärtige Fragestellungen herbeizuziehen. Um die Sonderstellung des Kabinetts in der Chronik der europäischen Kulturinstitutionen besser zu verstehen, sollten wir jedoch von ganz vorne beginnen.
Während bereits im Hochmittelalter erste Anzeichen einer zentralisierten Ablage wichtiger Dokumente und Zeitzeugnisse bei der damaligen Munizipalverwaltung nachzuweisen sind, wird es vor allem das Basler Konzil von 1431 bis 1449 gewesen sein, das ein Bewusstsein für die Bedeutung der Stadt als humanistisches und kulturelles Zentrum gedeihen liess. In dessen Zuge entstanden nämlich nicht nur die Universität und mit ihr verbunden die Universitätsbibliothek (1460), sondern es wurden auch – insbesondere von Immigranten aus dem heutigen Bayern, Baden-Würtemberg und Hessen – zahlreiche Buchdruckereien gegründet. Zu den wichtigsten dieser sogenannten Offizine gehörten diejenige von Johannes Froben und diejenige von Johannes Welcker, später genannt Amerbach. Das florierende Druckereigeschäft führte zu einer Affluenz verdienter Gelehrter aus ganz Europa, kulminierend in der Ankunft von Erasmus von Rotterdam. Der niederländische Gelehrte liess zahlreiche seiner Werke hier drucken; er las, schrieb und lebte hier mit Genuss und Freude, und vor allem vermachte er bei seinem Tod 1536 der ihm sehr verbundenen Familie Amerbach nicht nur zahlreiche seiner durch sie gedruckten Bücher, sondern gleich seine gesamte Preziosensammlung.
Drei Jahre nach Erasmus’ Ableben liess der Sohn von Johannes Amerbach, Bonifacius, zur Aufbewahrung der ihm anvertrauten Kostbarkeiten eine Truhe herstellen. In diesem Behältnis fanden die Münzen, Metallschmiedearbeiten, kleinformatigen Malereien und vornehmen Gebrauchsgegenstände wie etwa Schreibutensilien aus dem Nachlass des verstorbenen Humanisten Platz, zusammen mit wertvollen Artefakten der Familie Amerbach selber. Die sogenannte Erasmustruhe, von Sabine Söll-Tauchert in einem Katalog des Historischen Museums Basel (2011) als “profanes Reliquienbehältnis” bezeichnet, kann als Miniaturformat und Vorgänger der ersten öffentlich besuchbaren und sich in Eigentum eines Gemeinwesens befindlichen Kunstsammlung der Welt gesehen werden: Dies deshalb, weil sich aus diesen ersten noch sehr disparaten Gegenständen im Verlaufe des 16. Jahrhundert das bereits erwähnte Amerbach-Kabinett entwickeln sollte, eine Kunst- und Wunderkammer, die nach Fehlen eines männlichen Erbens, dem Erlöschen des Familiennamens und dem drohenden Wegverkauf ins Ausland im Jahre 1661 von der Stadt Basel und der Unibibliothek angekauft und anschliessend der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurde. Die Tatsache, dass nun auch unbegleitete Frauen, Nichtadelige, Laien, in kurz die breite Bevölkerung Zugang zu wertvollen Büchern, Gemälden, Skulpturen hatte, ohne dafür einem Herrscher oder Kleriker genehm sein zu müssen, ist bis heute in keinem anderen Ort der Welt an einem früheren Zeitpunkt verbürgt. Noch heute fungieren die bekanntesten Stücke der Sammlung Amerbach als Hauptattraktionen des Kunstmuseums Basel, so etwa Holbeins Familienbildnis oder natürlich der Tote Christus im Grab.
Dass die Stadtregierung unter Einfluss der legendären Bürgermeisterfamilie Wettstein in den 1660er-Jahren überhaupt die Sensibilität besass, ein so bedeutendes Kulturgut nicht abwandern zu lassen, ist zu grossem Teil Bonifacius Amerbachs Sohn, Basilius II, zu verdanken. Nachdem dieser im Jahr 1562 die Sammlung seines Vaters geerbt hatte, war er nicht nur um ihr Anwachsen besorgt, sondern begann eine Systematisierung, die sich einerseits bei den Ankäufen durch klare Priorisierung von regionalen Gemälden, Schriften und Goldschmiedekunst zeigte und andererseits zu einer sukzessiv besser strukturierten Inventarisierung der familiären Eigentümer führte. Die Begeisterung von Erasmus für die Stadt Basel, für ihre Kulturproduktion und Wert-schätzung der humanistischen Ideale von Bildung und geistiger Emanzipation des Individuums durchdrangen auch das neue Familienoberhaupt. Basilius’ Konzeption seiner Sammlung war in der Folge gänzlich anders als diejenige der fürstlichen Wunder- und Kunstkammern des 16. Jahrhunderts: Mit ihnen hatten die Herrscher (und wenigen Herrscherinnen) nicht primär versucht, zu einem gesteigerten Verständnis der Welt durch Anschauung der in ihr auftretenden Phänomene zu gelangen, eher gereichte ihnen die Sammelfreude zur Selbstdarstellung. Das gesamte irdische Territorium sollte prunkvoll im Kleinen abgebildet werden, der Mikrokosmos der Privatsammlung sollte den Makrokosmos des Herrschaftsgebiets und in fraktaler Projektion sogar den ganzen Planeten und das Universum repräsentieren. Entstanden aus den weitaus be- scheideneren italienischen Studier- und Lernzimmern des 15. Jahrhundert, den studioli, steigerte sich mit den herrschaftlichen Einrichtungen der Anspruch einer kosmologischen, enzyklopädischen Kollektion. Sie umfassten sowohl aus natürlichem Kontext wie Wäldern, Feldern, Meeren entnommene wie auch artifizielle, also von Menschenhand gefertigte Objekte. In ihnen trafen wir auf “Launen der Natur” wie vermeintliche Monster, missgestaltete Tiere oder weitere merkwürdige Kreaturen, auf seltene Pflanzen, Fossilien, Knochen oder Muscheln. Ferner fanden sich Münzen, Gemmen, Vasen oder abgetragene Schriftzüge von alten Bauten. Ausserdem finden sich wissenschaftliche Werkzeuge wie Globen, Messinstrumente oder Karten, ein Sammlungsbereich mit Skulpturen und Gemälden oder eine Bibliothek rundeten meist die repräsentative Kammer ab.
Im Nebeneinander von natürlichen, im Sinne von organisch gewachsenen, zufälligen oder auch als Teil der göttlichen Schöpfung verorteten Objekten und künstlichen, also zu einem Zweck geschaffenen Artefakten entwickelten sich die Kunstkammern neben Orten des Beeindruckens von Eingeladenen hauptsächlich im bürgerlichen Kontext wieder zurück zu intimen Räumen der Wissenserschliessung und -vermittlung. Insbesondere dieser Aspekt und weniger die Zurschaustellung des eigenen Reichtums interessierte nun unseren Gelehrten Basilius Amerbach (er war Rechtsprofessor und Rektor der Universität): Zum Zeitpunkt seines Todes befanden sich beinahe 10’000 Dokumente, Briefe, Bücher und sonstige Schriftträger in dem eigens gebauten Annex am “Haus zum Kaiserstuhl”, der Familienresidenz der Amerbachs in der heutigen Rheingasse. Im Austausch mit befreundeten und (geistes-)verwandten anderen Sammlern, so etwa seinem Schwager Theodor Zwinger, dem heute noch berühmten Arzt Felix Platter – seines Zeichens Aufseher über eine immense Anmassung naturwissenschaftlicher Schriften, Instrumente und allerlei Naturalien – oder dem Kaufmann Andreas Ryff, verbrachte Basilius Wochen, Monate, mit dem Studium aller möglichen Disziplinen und Wissensgebieten, vor allem aber der Kunst, der Antike, der Rechtsgeschichte und der heute sogenannten humanistischen Wissenschaften.
Basilius sammelte Werke der damaligen und vergangenen Kunstproduktion nicht aus rein ästhetischem Interesse: Er betrachtet sie als hochwertigste Manifestation des der menschlichen Natur inhärenten Gestaltungswillens. Nicht alleine durch ihre Anschauung, nein, auch durch Beschrieb und Notation der Welt- und Stadtgeschichte versucht der vielgereiste Humanist, sich diese zu eigen zu machen. Als einer der ersten Menschen überhaupt befasste er sich mit der Archäologie der nahe Basel gelegenen römischen Stadt Augusta Raurica und erforschte die Überreste des dortigen Theaters. Die im Jahr 1587 erfolgte strukturierte Inventarisierung der akquirierten Werke lokaler Künstler des 16. Jahrhunderts, reichend von Urs Graf über Hans Holbein und seinem Bruder Ambrosius, bis zu Conrad Schnitt und Hans Bock oder Jacob Clauser, legt nahe, dass lange vor der Etablierung des Faches der Kunstgeschichte eine Art von historischem Bewusstsein einer regionalen Malerei- und Druckgraphiktradition vorhanden war. Auch die Aufnahme des Zürchers Hans Leu oder des Berners Niklaus Manuel, welche beide mit Basel in Kontakt kamen, spricht vom Desiderat, das piktoriale Erbe der Region schriftlich festzuhalten. Hätte Basilius wie heute das DOCK die Möglichkeit nicht nur zur analogen, sondern auch zur digitalen Erfassung gehabt, man wüsste, er hätte sie wahrgenommen.
Die Studienkammer von Basilius Amerbach hatte keine Fenster, keinen Ofen und priorisierte in ihrer Gestaltung ganz eindeutig die sachgerechte Aufbewahrung der Kunstgegenstände und Schriftstücke gegenüber einer repräsentativen Luxusausstattung. Dennoch darf man nicht dem Fehlschluss erliegen, diesen Kleinbasler Hinterhof voller Kunstschätze als hermetisch abgeriegelten Ort zu verstehen, in dem eine beinahe sakralen Veneration der Sammlungsgegenstände stattfand. Die Neubewertung der Trennung von artes mechanicae (wie Bauhandwerk, Waffenkunde oder etwa Schneiderei) und artes liberales (wie etwa Musik, Rhetorik oder Astronomie), die Überlagerung von heute klar getrennten Disziplinen wie Geologie, Zoologie oder Medizin und die Abhängigkeit von subjektiven Auswahlkriterien, die in privaten Kammern herrschte, führten zu einer lebhaften und eklektischen Bespielung dieser Räume. Das Vermächtnis der italienischen Studierzimmer aufnehmend, konnte dort aktiv geforscht werden, es durften Vorträge gehalten, Briefe geschrieben und sich ausgetauscht, besonders aber auch Erkenntnisse und eigene Produktionen präsentiert werden. Die Idee, Kunstgegenstände auch abseits der auf maximale Einschüchterung bedachten Sakralbauten in sterilen, der Stille bedürfenden Grossräumen der distanzierten Betrachtung auszuliefern, entstand erst im Zeitalter der auf Rationalität, auf Vernunft bedachten Aufklärung. Die Tatsache, dass die ersten Museen, bzw. das, was wir heute darunter verstehen, in ehemaligen Herrscher- oder Regierungspalästen wie dem Louvre, den Gebäuden auf dem römischen Kapitol oder den florentinischen Uffizien der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind, rundete im 18. Jahrhundert nolens volens die Etablierung des autoritativen Habitus der Kunstpräsentation ab.
Die amerbachschen Ursprünge der Bestände des Kunstmuseums Basel, heute tresorartig gesichert durch megalomanische Marmortreppen und enorme Eisentüren, sind aber eigentlich eher im Kleingemeinschaftlichen zu verorten. Die Privatsammlung und Bibliothek mit bewahrender Intention, also eine Datenbank avant la lettre, lebte von Interaktion und konstanter Selbstreflexion. Basilius Amerbach und die anderen Sammler seiner Zeit versuchten, nicht nur die eigene Bildung zu fördern, sondern auch eine
Bestandesaufnahme der lernenden und schaffenden Menschen um sie herum zu schaffen. Das Kulturgut von Vergangenheit bis Gegenwart, Bücher mit den scheinbar verlorenen Weisheiten der Antike und den jüngsten Forschungserkenntnissen, edle Zeugnisse des alten und des neuen Kunsthandwerks dienten dazu, die fruchtbare Atmosphäre der Stadt Basel dingbar zu machen. Das freudvolle Betrachten von Kunst war damit zu kombinieren: Konzepte wie die antike kalokagathia, die Synthese des innerlich Guten, Wahren, Richtigen mit dem äusserlich Schönen, waren den Humanisten klassischer Bildung wohlvertraut. Sie wertschätzten trotz gesellschaftlicher Diskretion und zeitweiser Zurückgezogenheit den öffentlichen Austausch mit der lokalen Kreativszene, mit einem freilich stolz getragenen Subjektivitätsanspruch an die resultierende Galerie. Sind dies Qualitäten, die heute noch einen kleinen unabhängigen Kunstraum auszeichnen können? Unabdingbar scheint es heute, wieder vermehrt multidisziplinär zu denken und die Grenzen von Kunstbetrachtung, -aufbewahrung und - produktion, von reinem Konsum und Belehrtwerden einerseits und pluralistischem Einbringen verschiedener Perspektiven andererseits zu hinterfragen. Wie schaffen wir es aber im 21. Jahrhundert, kleine Kunsträume nicht wie in den Kammern der Renaissance nach einem Hauspatriarchen und seinen Idiosynkratien zu richten, sondern sie demokratisch zu gestalten? Inwiefern schaffen es Konzepte wie dasjenige des DOCKs, wo nur im Stile eines pars pro toto einzelne Token einer kunstschaffenden Person aufbewahrt werden, die auf ihr gesamtes Oeuvre lediglich verweisen, ihre Vorteile gegenüber einer althergebrachten Eigentumssammlung wie etwa des Kunstmuseums auszuspielen? Und dazu die Anschlussfrage: Wie gelingt ein repräsentatives, vielleicht auch für zukünftige Forschende aufschlussreiches Archiv von Basler Gegenwartskunst abseits des kommerziellen Kanons, gerade angesichts der beinahe unübersichtlich vielfältig gewordenen regionalen Produktion? Es beginnt somit zum 15. Jubiläum des DOCKs ein Denkprozess, der erfreulicherweise den humanistischen Habitus der Selbstreflexion weiterführt. Noch erfreulicher ist, dass der nicht primär kommerziell ausgerichtete Kunstraum mit einer Ausleiheplattform, die auf begrenzte Zeit den Besitz von Werken lokaler Kunstschaffender zu tiefen Preisen gleichsam erschwinglich macht, ein Gegenmodell zu dem auf ewiges Eigentum versessenen Sammlungsgedanken des frühneuzeitlichen Bürgertums geschaffen hat.